lyrik
Paraphrasieren – oder – Über die Unabwendbarkeit der Worte
Worte – wir holen sie meist arglos aus unseren Tiefen hervor, meinen aus dem zu schöpfen, was wir haben. Was wir sind. Was wir geworden sind auf unseren Streifzügen durchs Dickicht des Lebens. Wir, die Wortpiraten. Manche davon sind hart erkämpft. Andere lernten wir lieben und wieder andere schlichen sich einfach in unsere Seelenwände ein. Sie geben uns Sicherheit auf dieser lang erprobten Reise.
Ist der Himmel, in den sie geflüstert werden, immer noch derselbe? Oder sind es nur Worte, die hinweggetragen werden, mit wieder anderen Worten? Überschreiben wir unsere Geschichte mit denselben Worten? Brauchen wir neue?
Oder hat jedes Wort, zweimal gesprochen, doch seinen ureigenen Klang, diese eine fragile Nuance, die alles in einem anderen Licht scheinen lässt. Ändert sich der Farbton, wenn wir in neue Augen sehen? Ist das neue Kontextkleid, das wir uns anziehen können (immerhin!), die Lösung? Die feinen Schattierungen, eine neu gefundene Wahrheit, die Bandbreite des Gefühlten. Oder verändern sich auch die Veräußerungen in diesem veränderlichen Abenteuer, das man Leben nennt? Immer bleibt es eine Gratwanderung.

Ein kleiner Leseproben-Auszug aus meinen lyrischen Texten der letzten Jahre:
Zwischenwelt
Unter den vielen
Versenkungen lernt
sie das Scheitern
lieben
und die purpurnen Linien
am Mundrand
der Kriegerin

Wir die wir
uns erfunden haben
unsere Herzen jagen
nach dem Weltgedächtnis
wir (warum) gehen uns
aber immer weiter nach
schieben skizzenartige
Fragen in den Äther
den Himmel das Meer
nähern uns an
dem Überleben

Verzögerungsmenschen sind Verlorene. Doch keine Verlierer. Sie flattern, Schmetterlinge im Licht der Zeiten. Ihre Welt scheint ewig. Sie sprechen von Frost und meinen die Sonne, hüten ihre Gaben wie ein Kleinod, das gemächlich durch ihre Adern zieht. Sie verschleppen und zaudern, schweifen ab, schieben hinaus, halten an. Sie sind saumselig. Und all dies sehr gewissenhaft. Es ist ihre Lust am Augenflattern zwischen zwei Augenblicken. Diese rote Linie, die sich ergibt und nie aufhört zu sein. Sie können sich in Zwischenräume verkriechen. Wenn man sie lässt. Verloren, ja. Immer mit einem Stück Himmel im Herzen. Der noch kommt. Sicher.

Ein bisschen Macchia
weht in die
Stadt herein
und Mauern schlucken
rosa Luft
in dieser Zeit
aus Fragen
und Kreisen
wir tauschen die
Sinne weil
Tage nicht nur Tage sind

Bei manchen Menschen liegt die Poesie am Grund ihrer Seele. Sie wissen nichts von ihrem Reichtum und dem, was sie fast leichtfertig nach außen werfen. Rahmen selbst Dunkles ein in etwas Warmes. Ihr Sinn für Tiefe zieht sich durch Haut und Knochen, auch in die unliebsamen Winkel dieser Welt. Freie Schöpfer sind sie – und ahnen doch nicht, wie sehr sie leuchten. Es gibt keine schwarzen Ränder. Sie sind Verdichtete, poetische Naturtalente, manchmal auch Verlorene, aber immer mit einer eigensinnigen Feinheit behaftet – die diese Welt so dringend braucht.

Dein Mund als
Zierleiste der Hoffnung
geschwungen um ein
Gerüst
voller Chaos
ich spreche von dir und
mir wir
verblühen im
Halbmond

Heute las ich von einer Purpurstadt und
konnte doch nur an stille
Revolution denken
an zerkratzte Flügel und
rotgekachelte Erinnerungen
an ein Meer
ein Echo am Ufer
ein Sandspiel
wo beseelte Augenränder
unverwischbar am anderen
Ende liegen

Seit Tagen ist dein Auge
menschenleer eine
in Wasser getränkte Straße
ich nehm deine Hand und
du meine
Achillesferse

Wo sie gehen, ziehen sie Licht hinter sich her. Eine Drehung, ein Wirbel, Verschlingende. Die Risse der Welt lassen ihre Augen flattern und doch folgen sie mehr einer inneren Analogie. Wenn sie durch Wälder ziehen, suchen sie geradlinig eine Lichtung und stehen sie am Abgrund und ist es nur mehr ein Wimpernschlag – sie brauchen sich niemals zu drehen. Ihre Füße als heimliche Wächter. Selbst Schnee spiegelt weißes Licht auf ihre Netzhaut. Die Dunkelheit tragen sie gelegentlich wie eine Verkleidung – nur um nicht aufzufallen im Dickicht der Gefallenen. Ich frage dich nach Schmerz und der Nachtseite der Wahrheit. Du, mein Freund, hast sie längst gesehen. Und flatterst weiter zwischen all den Zerklüfteten.

Gestern ging ich
wieder mal einen Schritt
Richtung Meer und
im Rücken die Flut
meiner leeren Hände
Flügel können
brechen – hast du das geahnt (?)

Ein Hineinsehen
und Fügen
das Ausgraben all der
Gesichter
poetisch inszeniert wäre
es leichter zu
ertragen

Lockdown
Wenn ich an Tagen wie diesen davor stehe, am Fluss der Dinge, unter staubgetränkten Dächern, mein Atem aufgestockt – trage ich Poesie vor mir her. Sie ist mir Schlupfwinkel und Freiraum, ein Kriegsschauplatz, eine Schlachtlinie der Zuversicht. Was könnte man erzählen zum Staub, der sich auf unsere Welt legt, was sagen zum Abräumen der Übersättigung. Zum Hinlegen unserer Hände. Eine Erde, die sich weiterdreht. Eine Welt, die sich schlafen legt, wenn nicht jetzt, wann dann. Können wir fragen nach dem was ist, was sein kann? Nach der Sache mit dem Alleinsein. Wenn das bisschen Licht sich über uns beugt mit seinem unerschrockenen Glanz. Vielleicht, vielleicht lernen wir sehen.

Lockdown II
Es sind mächtige Tage in
gedämpftem hin und her
sie stehen da in milchfarbigem
Schein gleich Platons
Höhle sie wechseln sich
ab wie Türen
entlang ausgestreckten Fluren
ich wollte schon immer
dahin wollte schon immer
diese Dehnung und noch
mehr das Nichts
nichts blitzt auf nichts tritt ein
meine Hand liegt vor mir
freigesprochen
in Tagen wie diesen

Es ist ein Bild von Gewesenem
das beim Nachklingen aus
allen Wolken fällt
du: das Geräusch
ich: der Hall
in Wellen in Scherben
angelehnt an diesen Winter

Wenn Inuits trauern oder krank sind, bekommen sie einen neuen Namen, einen Todesseelennamen. Ihr bisheriger löst sich auf, verschwindet einfach in den weißen kalten Weiten. Sie wechseln ihre Seele aus im festen Glauben. Eine List, ein dämonischer Schachzug, um den ich sie fast beneide.
Legt sich demnächst eine dumpfe Dunkelheit über meinen Geist, wird der Faden, der uns verbindet, immer dünner – wäre es nicht ein genialer Lückenschluss? Ich würde Adlartok wählen, clear sky. Ein kühler, sauberer Todesseelenname. Vielleicht würden die Gedanken zerrinnen und das Herz wäre schuldenfrei, eine reingewaschene Himmelsleinwand. Weiße Lebendigkeit würde sich in mir ausbreiten. Und auf jedem Augenlid ein Stück blauer Himmel.

Ich werde die Drähte aus den
Augen nehmen und den
Himmel damit dehnen
ich werde die ausgestreuten
Wolken haltbar machen und
das Liegengebliebene
zerpflücken bis nur noch
Hände bleiben
Wind und Hände
(vielleicht)